John
Dewey im Kontext der „progressive education“.In: John Dewey als Pädagoge. Eziehung - Schule - Unterricht. Hrsg. Franz-Michael Konrad/Michael Knoll. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018, S. 9-28. Überarbeitete Fassung von: Zwischen bürgerlicher Demokratie und demokratischen Kollektivismus. Die amerikanische 'progressive education' in ihren politischen Optionen. In: Politische Reformpädagogik. Hrsg. Tobias Rülcker/Jürgen Oelkers. Frankfurt: Lang 1998. S. 349-378. Hier ein Auszug:
Die
progressive Erziehung wird hier als eine Reformbewegung verstanden, die von 1860
bis 1940 existierte und aus zwei Phasen, nämlich aus der „new education“
(1870-1895) und der „progressive education“ im engeren Sinne (1895-1940)
bestand. In dem noch immer gültigen Standardwerk The Transformation of the School vertritt Lawrence A. Cremin die
These, dass die „progressive Erziehung“ integraler Teil einer umfassenden
Bewegung gewesen sei, die Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten
eine grundlegende Reform von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angestrebt
habe. „Progressive Erziehung“, so Cremin (1961, S. 88), „hatte ihren Ursprung
im Vierteljahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg, als man sich darum bemühte, die
Schule zu einem wirkungsvollen Hebel der sozialen und politischen Erneuerung zu
machen. Sie begann als ein vielseitiger Protest gegen eine enge Sicht der
Schule, aber sie war immer mehr als das; denn im Grunde betrachtete sie
Erziehung als ein Anhängsel der Politik mit der Aufgabe, das Versprechen vom
amerikanischen Leben einzulösen.“ Die Erfüllung des „amerikanischen Traums“ für
die heranwachsende Generation auch im Zeitalter der „urbanen und industriellen
Zivilisation“ als Möglichkeit und Perspektive offen zu halten, sei Ziel und
Zweck der Bemühungen von Calvin M. Woodward, John Dewey, William H. Kilpatrick,
George S. Counts und all der Frauen und Männer gewesen, die um die
Jahrhundertwende ihre Ideen und Vorstellungen zur Reform von Unterricht und
Erziehung entwickelten und verwirklichten. Diese Namen verweisen auf die
unterschiedlichsten pädagogischen Theorien und Praktiken, und natürlich weiß
Cremin darum. Deshalb erklärt er auch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der
Bewegung zu einem spezifischen Merkmal der amerikanischen Reformpädagogik. „Die
Bewegung zeichnete sich von Anfang an durch einen pluralistischen, häufig
widersprüchlichen Zug aus“, schreibt Cremin (1961, S. x).
Cremins These
vom politischen und pluralistischen Doppelcharakter der progressiven
Erziehungsbewegung ist von den amerikanischen Historikern zumeist übernommen
worden. Sie liegt auch dem vorliegenden Beitrag zugrunde, allerdings in einer
differenzierten Form. Mit David B. Tyack (1974) und David F. Labaree (2010) gehe
ich davon aus, dass das politische Spektrum, das die amerikanischen
Reformpädagogen in den achtzig Jahren ihrer Wirkung abdeckten, über die von
Cremin beschriebene liberale und sozialreformerische Richtung hinausreichte und
modern konservative, sozialtechnokratische und marxistische Ansätze
miteinschloss, wie sie etwa von William T. Harris, David S. Snedden und Theodore
Brameld vertreten wurden. Wie Herbert M. Kliebard (1986) herausgearbeitet hat, gehörte
John Dewey zwar zu den Befürwortern einer „sozialen Demokratie“, konnte sich aber
im Laufe der Zeit nicht nur als der wichtigste Exponent der gesamten Bewegung,
sondern auch als ihr strengster Kritiker und Kommentator profilieren.
Bürgerliche Demokratie
Die Progressive
Education verdankt ihre Entstehung insbesondere zwei Bewegungen, die Mitte des
19. Jahrhunderts aufkamen und das gesamte Bildungswesen zu beeinflussen
suchten. Die eine Bewegung entsprang an den Universitäten und Colleges und
propagierte die Auffassung, dass es im Zeitalter der Industrie und Wissenschaft
nicht ausreiche, Baumeister, Techniker und all die anderen für Fortschritt und
Wohlstand verantwortlichen Berufe nach hergebrachter Weise „on the job“
auszubilden, vielmehr müssten die Ingenieure und Naturwissenschaftler wie schon
die Theologen und Juristen ein wissenschaftliches Studium an der Hochschule
absolvieren, damit Forschung, Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum auch in
Zukunft gewährleistet seien. Da sich die alten privaten Colleges sträubten,
diese Aufgabe zu übernehmen, verabschiedete der Kongress 1862 den von Justin S.
Morrill eingebrachten Land Grant Act, der dafür sorgte, dass in den nächsten
zwei Jahrzehnten mehr als vierzig neue staatliche Hochschulen für
Landwirtschaft und Technik entstanden und sich auch viele der traditionellen
Colleges und Universitäten gezwungen sahen, ingenieur- und
naturwissenschaftliche Fakultäten einzurichten. Der Land Grant oder Morrill Act
ist ein Markstein in der amerikanischen Geschichte. Mit ihm beginnt, was man die
„new education“ nannte (Knoll 2015a).
Die Neue
Erziehung hatte einen starken politischen Einschlag. Im Kern ging es um die
Demokratisierung der höheren Bildung. Die privaten Hochschulen, behauptete
William P. Atkinson (1866, S. 61, 63) vom Massachusetts Institute of
Technology, seien „Colleges der Aristokratie“. Sie „erhalten die
Alleinherrschaft einer privilegierten Klasse“ und „kultivieren das Anmutige und
Zierende mehr als das Nützliche“. Die staatlichen Hochschulen dagegen seien „Colleges
der Demokratie“. Sie bieten den „industriellen Klassen“ eine Ausbildung, die
auf die „Geschäfte der Welt“ und die „wirklichen Arbeiten des Lebens“
vorbereiten. Doch Atkinson und seine Kollegen wussten, dass es allein mit dem
Austausch von Latein und Griechisch durch Naturwissenschaft und Technik nicht
getan war. Auch die Form des Studiums musste sich ändern. Nach ihrer Ansicht
sollten die Studenten weniger rezeptiv lernen als vielmehr eigene Analysen,
Experimente, Vorhaben durchführen. „Unter dem alten System“, erkärte Andrew D.
White (1874, S. 188f.) von der Cornell University, „war es das Buch am Morgen,
das Buch am Nachmittag, das Buch am Abend – eine unaufhörliche Runde des
Studiums, was Menschen über Dinge gesagt haben. Unter dem [neuen System] [...]
geht der Student vom Studium über die Dinge zum Studium der Dinge selbst über –
im Labor, in der Werkstatt, im Zeichensaal, im Museum, auf dem Feld.“ Das von
den alten „aristokratischen“ Colleges vertretene Konzept der rezeptiven und
formalen Bildung widersprach dem Demokratieverständnis der Reformer. Der
Student musste anhand lebensrelevanter Probleme selbst tätig werden, sollte er
die Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit erlangen, die er als „nützlicher
Wissenschaftler“ und „demokratischer Staatsbürger“ brauchte. „Lernen durch Tun“
(Knoll 2015b) war die Devise der Neuen Erziehung.