In: Zeitschrift für Pädagogik 64 (2018), H. 5, S. 700-718 (Auszug).
1 Demokratie
in Politik und Gesellschaft
Demokratie war John Dewey ein Herzensanliegen
von Anfang an. Bereits mit 29 Jahren veröffentlichte er einen Essay, der seine
lebenslang anhaltende Grundüberzeugung zum Ausdruck brachte. In The Ethics of Democracy (1888)
kritisierte Dewey die herrschende und dezidiert von Henry Maine in Popular Government (1886) vertretene Ansicht,
dass sich Demokratie einfach politisch als „Herrschaft der Vielen“ definieren lasse.
Die Meinung, erklärte er, dass Demokratie bloß eine „Regierungsform“ darstelle und
allein „quantitativ“ zu bestimmen sei, mache den Menschen zu einem „isolierten Einzelwesen“
von rein „numerischer“ Bedeutung. Auch wenn das individuelle Wahlrecht und das
Mehrheitsprinzip einen anderen Eindruck erweckten, sei der Mensch ein „soziales
Wesen“, das der Gemeinschaft bedürfe und nur als Teil eines „sozialen
Organismus“ zu persönlicher Freiheit und Autonomie gelange. Demokratie sei „eine
Regierungsform bloß insofern, als sie eine Form der sittlichen und geistigen Vereinigung
darstellt“ (EW 1, S. 240). Dieses ethisch zentrierte Merkmal, so Dewey, teile
sie mit dem aristokratischen Modell. Von Platons Aristokratie unterscheide sie
sich aber durch die Methode, wie das Ziel, nämlich das „höchste Gemeinwohl“, erreicht
und verwirklicht werden könne. Während in Platons Republik eine kleine, uneigennützige
Elite absolute Kontrolle ausübe, um das als „gut“ Erkannte zum Wohle der
unorganisierten und inhaltlich überforderten Masse durchzusetzen, seien im demokratischen
Staat alle Menschen gefordert, unter Absehung ihrer eigenen egoistischen
Interessen selbst den allgemeinen Willen zu definieren und in freier
Vereinigung all die Aufgaben anzugehen, die in Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft zur Entscheidung anständen. Im Gegensatz zur Aristokratie, fügte
Dewey hinzu, zeichne sich die Demokratie durch einen „Individualismus“ aus,
aber es sei ein „ethischer Individualismus“, der nicht libertär oder anarchisch
agiere, sich vielmehr an den Zielen und Werten der Mitbürger orientiere, und
nicht, wie nach Platons Behauptung und irriger Demokratievorstellung, an den Launen,
Begierden und Interessen des Einzelnen. Genaugenommen sei die Demokratie jedoch
nicht auf „Individuen“ angewiesen, sondern auf „Persönlichkeiten“, die durch
gesellschaftliche „Anreize und Ermutigungen“, und nicht durch geisttötenden
Zwang und Druck, gelernt hätten, eigenständig Initiative zu ergreifen,
Verantwortung zu übernehmen und dem Humanitätsideal der französischen
Revolution „Freiheit–Gleichheit–Brüderlichkeit“ uneingeschränkt Geltung zu
verschaffen (S. 243-244).
In
dem noch von seiner tief religiösen Einstellung beeinflussten Vortrag
„Christianity and Democracy“ (1892) bestätigte Dewey zunächst einmal, dass er
Demokratie als „geistiges Faktum“, nicht bloß als Teil einer
„Regierungsmaschinerie“ ansehe. Demokratie sei schließlich, wie das
Christentum, eine sittliche „Gemeinschaft der Ideen“, der „Interessen“ und des
„Handelns“. Dann führte Dewey einen Gedanken ein, der zumindest seit
Tocqueville (1984, S. 529) nahelag und zum festen Bestandteil seiner politischen
Überlegungen werden sollte, nämlich die enge Verbindung von Demokratie und
Wissenschaft. „Es ist kein Zufall“, sagte Dewey, „dass der zunehmende Ausbau
der Demokratie mit dem Aufstieg der Wissenschaft zusammenfällt“ (EW 4, S. 9). Wissenschaft
brauche Freiheit, d.h. „das Lösen von Fesseln und das Einreißen von Barrieren“,
um von alten Dogmen loszukommen und um neue Wahrheiten zu finden. „Welche
Wahrheit, welche Wirklichkeit auch immer im Menschenleben existiert, sie wird [durch
Demokratie] befreit, sich selbst auszudrücken“ (S. 8). Demokratie und
Wissenschaft bedingten sich mithin gegenseitig. Die Demokratie mit ihren
umfassenden Freiheitsrechten erlaubte der Wissenschaft, unabhängig von autoritativen
Vorgaben, neue Erkenntnisse zu gewinnen, sie zu begründen, zu lehren, zu
publizieren. Die Wissenschaft mit ihren rationalen Untersuchungsmethoden ermöglichte
wiederum der Demokratie, gesellschaftliche Aufgaben sachlich und vorurteilslos anzugehen
und damit entscheidend zum Frieden und zum sozialen Fortschritt beizutragen. Die
Verbreitung wissenschaftlicher Verhaltensweisen in der Bevölkerung war nach
Dewey daher die Voraussetzung für die Entfaltung demokratischer Lebensformen und
Gewohnheiten.
Im vielzitierten Kapitel 7 von Democracy and Education (1916) nahm
Dewey den Faden wieder auf. Wodurch sich die Demokratie von anderen
Politikmodellen unterscheide, notierte er dort, lasse sich durch zwei Kriterien
näher bestimmen. Anders als etwa bei Platon und dem klassischen Liberalismus beständen
in der voll ausgebildeten Demokratie zum einen „nicht nur zahlreichere und
vielfältigere gemeinsame Interessen“, es existiere auch „eine größere Zuversicht,
dass das wechselseitige Interesse als Faktor sozialer Kontrolle anerkannt wird“.
Zum anderen impliziere Demokratie „nicht nur eine freiere Interaktion zwischen den
sozialen Gruppen […], sondern auch eine Änderung des sozialen Verhaltens – seine
beständige Anpassung an die Situationen, die durch vielseitige Interaktion neu
entstehen“ (MW 9, S. 92). Dewey erläuterte seine Ansicht an einen Beispiel. In
einer „Verbrecherbande“, schrieb er, beschränke sich das gemeinsame Interesse
auf den materiellen Gewinn, den ihre Straftat erbringe; außerdem seien die
Beziehungen, die die Bande zur Außenwelt unterhalte, im Vergleich zu
demokratisch verfassten Gruppen unausweichlich auf ein Minimum reduziert, um
den Erfolg ihrer kriminellen Machenschaften nicht zu gefährden (S. 89). Demokratie
zeichnete sich nach Dewey also insbesondere aus (1.) durch gemeinsame Ziele und
Interessen, (2.) durch die vertrauensvolle und veränderungsbereite Zusammenarbeit
mit anderen Gruppen und (3.) durch die Anerkennung der Strukturen und Prozesse,
die die Einhaltung der gesamtgesellschaftlich geteilten Normen und Regeln sicherten.
Um diese umfassende Aufgabe zu bewältigen, brauche die demokratisch verfasste Gesellschaft
„ein Bildungssystem, das in jedem einzelnen ein persönliches Interesse an
sozialen Beziehungen und Kontrollen weckt und das zugleich die geistigen
Gewohnheiten erzeugt, die soziale Veränderungen ermöglichen, ohne Chaos
herbeizuführen“ (S. 105).
Deweys bedeutendste Schrift zur politischen
Theorie ist indes nicht Democracy and
Education, sondern The Public and Its
Problems, die 1927 erschien. Dort entwickelte Dewey, vor allem in kritischer
Auseinandersetzung mit Walter Lippmanns Studie Public Opinion (1922) und Graham Wallas‘ sozialpsychologischem Werk
The Great Society (1914), die Idee
der „großen Gemeinschaft“ (great community), die er so näher bestimmte: „Wo
immer es eine gemeinsame Tätigkeit gibt, deren Folgen von jedem einzelnen der
an ihr teilnehmenden Personen für gut befunden werden, und wo die
Verwirklichung des Guten von der Art ist, dass sie ein tatkräftiges Verlangen
und Bemühen hervorruft, es zu erhalten, weil es ein von allen geteiltes Gut
ist, da gibt es insofern eine Gemeinschaft“ (LW 2, 328). Im Grundsatz teilte Dewey
Lippmanns und Wallas‘ Analyse. „Die Öffentlichkeit“, urteilte er, „ist so
verwirrt und verdunkelt, dass sie nicht einmal die Organe nutzen kann, durch
die sie politisches Handeln und politische Ordnung vermitteln soll“ (LW 2, S. 311).
Doch Dewey wählte einen anderen Weg aus dem Dilemma. Im Gegensatz zu Wallas und
Lippmann befürwortete er weder die Rückkehr zur urwüchsigen Siedlerdemokratie
noch den Wechsel zur technokratischen Expertenherrschaft. Die Menschen, behauptete
er, könnten die Kontrolle über ihr Schicksal nur zurückgewinnen, wenn sie ihre
Isolierung überwänden, sich zum gemeinsamen Handeln vereinten und ein starkes Gemeinschaftsgefühl
entwickelten. Entscheidend sei der direkte Kontakt der Menschen untereinander. Die
persönliche Begegnung in „face-to-face“-Situationen bildete seines Erachtens die
notwendige Bedingung dafür, dass der Gedankenaustausch funktionieren, eine
Vertrauensbasis auf gegenseitiger Wertschätzung entstehen und die Annäherung
der unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorstellungen gelingen könne.
Für Dewey war die mangelnde Kommunikation
untereinander, die gesellschaftliche Desintegration und Entsolidarisierung selbstzerstörerisch.
Um das Problem zu lösen, erklärte er, müsse die Öffentlichkeit das Heft selbst
in die Hand nehmen und sich jenseits der verkrusteten Parteien und Verbände neu
organisieren. Die Erziehung spiele dabei eine entscheidende Rolle. Damit sie
nicht impulsiv handelten, apathisch abseits ständen, sich gar bevormunden und indoktrinieren
ließen, sollten alle Menschen außer einer hohen Allgemeinbildung auch – und vor
allem aufgrund der wesenhaften Beziehung zwischen Demokratie und Wissenschaft –
eine alltagstaugliche sozialwissenschaftliche Grundbildung erhalten. Unterstützt
von einer unabhängigen Sozialwissenschaft, die interdisziplinär und
anwendungsorientiert forscht und transparent und nachvollziehbar alle
notwendigen Informationen zur Verfügung stellt, sei jeder Bürger dann ohne
weiteres in der Lage, die politischen Zusammenhänge zu verstehen, die sozialen
Konsequenzen zu beurteilen und, nicht zuletzt, selbst über Programme,
Richtlinien und Gesetze zu entscheiden, die hohe Komplexität besitzen und große
Sachkompetenz erfordern. Gesellschaftliche Konflikte würden natürlich immer
auftreten, doch Dewey war überzeugt, dass sich durch den öffentlich geführten und
wissenschaftlich fundierten Diskurs Eskalation und Gewalt vermeiden und sich –
ohne Rückgriff auf staatliche Institutionen und Repräsentanten – Wege und Lösungen
finden ließen, die das Allgemeinwohl stärkten und den Frieden wahrten.
Anders als im klassischen Liberalismus gab es
bei Dewey keine „unsichtbare Hand“, die quasi automatisch dafür sorgte, dass sich
Eigennutz und Gemeinnutz harmonisch ergänzten. Seines Erachtens bedurfte es einer
dauernden kollektiven Anstrengung, um Individuum und Gesellschaft miteinander
zu versöhnen. Erst wenn ein allgemeines Bewusstsein vorhanden sei, erläuterte er,
das durch gemeinsames Denken, Handeln und Erfahren, durch ständige Beratung,
Beteiligung und Zusammenarbeit entstanden war, würde sich aus der
zersplitterten „großen Gesellschaft“ die „große Gemeinschaft“ entwickeln, in
der sich alle aufgehoben und integriert fühlten. Daher war der Dreiklang von Kommunikation,
Partizipation und Kooperation für Dewey die unerlässliche Voraussetzung, damit die
Menschen zum einen ihre Potentiale ausschöpfen und sich voll verwirklichen
konnten; zum anderen seien sie dann auch in der Lage, ihre unveräußerlichen
Rechte auf Selbstbestimmung, Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit uneingeschränkt
wahrzunehmen. Was Dewey ersehnte,
war eine Form der „sozialen“ und „direkten Demokratie“, die – je nach
Interpretation (Damico, 1978; Westbrook, 1991; Ryan, 1995) – dem Vorbild des
amerikanischen „town hall meeting“, des englischen Gildensozialismus oder der
Peirceschen Forschungsgemeinschaft entstammte. Auf jeden Fall sollten in der großen
Gemeinschaft alle Arten der Bevormundung, Unterdrückung und Ausbeutung
beseitigt und alle Aufgaben, Fragen und Probleme des gesellschaftlichen Lebens
unter Zuhilfenahme von wissenschaftlicher Methodik und Expertise öffentlich und
gemeinschaftlich so lange reflektiert und diskutiert werden, bis ein Ergebnis
gefunden worden war, das dem Gemeinwohl diente und die Betroffenen
zufriedenstellte.
Nach neuerem Sprachgebrauch könnte man von
einer „partizipativen“, „kooperativen“, „deliberativen“ oder, vielleicht noch
besser, von einer sozial-integrativen Demokratie sprechen. Denn Deweys Ideal
war nicht eine Demokratie der Abstimmung und formalen Mehrheitsfindung, sondern
– wie bei Habermas (1992) – eine Demokratie der Beratung und einvernehmlichen
Entscheidung. Parteien, Verbände, Berufspolitiker, faule Kompromisse hatten da
ebenso wenig Platz wie Herrschaft, Macht und Fremdbestimmung.
Als früher
Vertreter des modernen Kommunitarismus verstand Dewey unter Demokratie eher ein
soziales als ein politisches Projekt, weil sich Individuen erst in zunächst kleinen
Gemeinschaften zu selbständigen und kreativen Persönlichkeiten entwickeln müssten,
um schließlich die „große Gemeinschaft“ mit wahrhaft demokratischen Strukturen
und Prozessen schaffen zu können. „Eine Demokratie“, so Deweys berühmte
Formulierung in Democracy and Education,
„ist mehr als eine Regierungsform, sie ist in erster Linie eine Form des
Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“ (MW 9, S.
93). Und als sittliche Aufgabe und allgemeine „Lebensform“ sollte sie auf
Konsens und Solidarität beruhen und alle Bereiche der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
durchdringen. Hein Retter (2009, S. 58-73) z.B. weist mit Recht auf das unpolitische,
vormoderne, utopische Potential hin, das in Deweys Demokratie-Konzept zweifellos
steckt.