Pädagogische Ambitionen – die
Gründung der Laborschule
John Dewey kam am 1. Juli 1894 allein in die brodelnde Weltstadt am Lake
Michigan. Seine Frau Alice und seine beiden ältesten Kinder, Fred und Evelyn,
weilten bereits seit sechs Wochen zu einem einjährigen Sprach- und
Bildungsurlaub in Europa. Wie wir aus den fast 100 Briefen wissen, die Dewey in
den nächsten sechs Monaten an seine Frau nach Paris schrieb, waren Muße,
Freiheit und Erholung allerdings nicht mit seinem Strohwitwerdasein verbunden.
Abgesehen von seinen universitären Verpflichtungen und den zahlreichen
Vorträgen, Vorlesungen und Seminaren, die er zur Aufbesserung seines Gehalts
zusätzlich abhielt, abgesehen auch von der liebevollen Betreuung seines
jüngsten Kindes Morris hatte Dewey bis zum Dezember, d.h. bis zum Beginn seines
Freisemesters und seiner eigenen Abreise nach Europa, eine wichtige
Angelegenheit zu erledigen, nämlich den Umzug von Ann Arbor nach Chicago. Dies
bedeutete zunächst einmal zweierlei: Dewey musste für seine Familie eine neue
Wohnung und für seine Kinder eine neue Schule finden.
Während die Suche nach einer Wohnung ihn nicht weiter belastete, da er aus
Universitäts- und Freundeskreisen zahlreiche Hinweise bekam, beschäftigte ihn
die Frage, welche Schule seine Kinder besuchen sollten, mehr als erwartet. Bei
seinen Streifzügen durch Chicago, die ihn nicht nur in die Innenstadt mit ihren
prächtigen Theatern, Konzertsälen und Museen, sondern auch in die Vorstädte mit
ihren Slums, Bordellen und schäbigen Schulen führten, gewann Dewey den
Eindruck, dass es nicht leicht sein würde, in Chicago für seine Kinder den
kultivierten Umgang zu finden, wie er sich ihn wünschte und wie er ihn offenbar
aus Michigans kleiner Universitätsstadt Ann Arbor kannte.
Eine mögliche Lösung des Problems deutete sich an, als er an der Cook
County Normal School sechs Vorträge über Educational
Ethics hielt und wiederholt die ihr angeschlossene Übungsschule besuchte. Die
Cook County Normal School in Englewood war eine Bildungsanstalt für
Elementarschullehrer, die seit 1883 von Francis W. Parker geleitet wurde. Francis
Wayland Parker, Colonel im Bürgerkrieg, hatte in Europa und vor allem in Berlin
studiert, wo er sich intensiv mit den Schriften von Pestalozzi, Froebel und
Herbart befasste. Im Jahr 1875, als er zum Superintendenten der
Elementarschulen in Quincy, Massachusetts berufen worden war, führte er ein System
ein, das nicht nur die seit langem bekannten Prinzipien der progressiven
Erziehung postulierte, sondern sie auch publikumswirksam realisierte. Zwanzig
Jahre vor Dewey standen in seinem Schulbezirk Kind, Aktivität und Leben im
Zentrum des Unterrichtsgeschehens. Tatsächlich war es Parker, nicht – wie
allgemein angenommen – Dewey, der mit seinem Beststeller Notes of Talks on Teaching (1883) und dem Nachfolgeband Talks on Pedagogics (1894) die Schule
als „ideales Heim“ und „embryonale Demokratie“ konzipierte und den Lehrplan so
gestaltete, dass sich das Lernen soweit wie möglich „natürlich“, d.h. situiert,
lebensnah und fächerübergreifend, vollziehen konnte. Wie zuvor schon die
Schulen in Quincy wurde auch die Cook County Normal School schnell das „Mekka“ der
reforminteressierten Pädagogen. Zahllose Lehrer, Schulleiter, Professoren
pilgerten nach Englewood, um dort – mit den Worten von G. Stanley Hall - ihre pädagogische „Uhr
aufzuziehen“ und „Inspiration“, „neue Ideen und frische Anregungen“ zu bekommen.
Auch Dewey schätzte Parkers Pädagogik. In Englewood, berichtete er seiner
Frau am 1. November ganz begeistert, seien alle Klassenzimmer mit Aquarien,
Mineralien, ausgestopften Vögeln und Eichhörnchen ausgestattet; vor allem
würden die Kinder dort das Lesen und Schreiben ganz natürlich, ohne Drill,
Druck und Zwang erlernen. „Dem Kind wird nie ein Wort beigebracht, es sei denn,
es möchte es benutzen.“
Dewey war erregt und aufgewühlt, ja geradezu berauscht. Ihm eröffnete sich
plötzlich eine neue Welt. Nach dem Besuch bei Parker ahnte er, wie eine moderne
Schule und ein kindgemäßer Unterricht in etwa aussehen sollten. Sogleich
skizzierte er das, was man als sein erstes pädagogisches Glaubensbekenntnis
bezeichnen könnte. Obwohl rasch hingeworfen und flüchtig formuliert, enthält
der Brief vom 1. November 1894 im Kern das zukünftige Programm der Laborschule:
"Es ist da ein Bild von einer
Schule, das beständig wächst in meiner Vorstellung; einer Schule, in der
irgendeine reale & buchstäblich konstruktive Aktivität Mittelpunkt und
Ursprung der ganzen Sache zu sein hat und von wo aus sich die Arbeit immer in
zwei Richtungen entfalten sollte: zum einen die soziale Bedeutung dieser
konstruktiven Tätigkeit, zum anderen der Kontakt mit der Natur, die das
Material dazu liefert. Ich kann mir, theoretisch, vorstellen, wie das
Schreinern etc. beim Bau eines Modellhauses das Zentrum der sozialen Erziehung
auf der einen und das der wissenschaftlichen auf der anderen Seite darstellt,
alles verbunden mit einer Ausbildung positiver konkreter physischer
Gewohnheiten von Auge & Hand. Und all die Materialien und Methoden für
solch eine Schule existieren, sie liegen lose und verstreut herum. Es gibt die
Kindergartenmethoden, das technische Werken, die Naturkunde, die Koordination
der Fächer etc. pp."
Dewey entwarf in diesem Moment die, noch vage, Idee einer idealen Schule.
Sie war, wie er richtig bemerkte, nicht außergewöhnlich und hielt sich mit
ihrer Handlungs-, Sozial- und Wissenschaftsorientierung im Rahmen dessen, was –
anknüpfend an Comenius, Rousseau, Pestalozzi und Fröbel – im englischen
Sprachraum seit den 1860er Jahren unter der Bezeichnung „new education“ etwa von Herbert Spencer, Charles
W. Eliot, Francis W. Parker, William
N. Hailmann und G. Stanley Hall
propagiert und unter dem Slogan „learning by doing“ zum Teil auch schon in
Kindergärten, Schulen und Colleges realisiert worden war. Doch der obige Abschnitt hatte
jenseits des theoretischen Aspekts eine enorm praktische Bedeutung, denn Dewey
überlegte offensichtlich, seine philosophische Perspektive zu ändern und sein
gesellschaftliches Engagement neu zu bestimmen. Natürlich hatte er als
fürsorglicher Vater von drei Kindern und als ehemaliger Lehrer, Schulvisitator
und Gründungsmitglied des Michigan Schoolmasters‘ Club zuvor schon über
Erziehung, Schule und Unterricht nachgedacht und manche Schrift verfasst. Doch
jetzt war Dewey, in seinen eigenen Worten, „auf dem besten Wege, ein
pädagogischer Spinner [crank] zu werden.“ „Ich denke manchmal“, bekannte er
seiner Frau, „ich höre auf, Philosophie direkt zu unterrichten, und unterrichte
es über die Pädagogik.“ Überdies regte sich sein soziales Gewissen. „Wenn Du an
die tausend und abertausend junger Menschen denkst, die praktisch jedes Jahr in
den Chicagoer Schulen mehr oder weniger zugrunde gerichtet werden, dann genügt
es, dass du hinausgehst und an den Straßenecken jaulst wie die Heilsarmee.“
Hier deutete sich die Wende an, die sein Leben radikal verändern sollte. Im
Brief vom 1. November spielte Dewey nachweislich zum ersten Mal mit dem
Gedanken, nicht bloß Erziehungsphilosophie zu lehren und eine Schule für seine
Kinder zu finden, sondern auch praktische Pädagogik zu betreiben und eine
Schule zum eigenen Forschen und zum Wohle der Gesellschaft zu gründen. „Die
Schule“, erklärte er seiner Frau, „ist eine Form des sozialen Lebens, die
abgesondert und kontrolliert ist – die unmittelbar experimentell ist; und falls
die Philosophie jemals eine experimentelle Wissenschaft sein wird, dann ist die
Errichtung einer Schule ihr Ausgangspunkt.“
Der Gedanke an eine Schule, die seine eigenen Vorstellungen widerspiegelte
und auf eine grundlegende Reform der schulischen Bildung und Erziehung
abzielte, ließ Dewey nicht mehr los. Dies zeigte sich schon wenige Tage später,
als er sich angeregt mit „einer Mrs. Aber“ unterhielt, die bei ihm und seinem
Freund und Kollegen George G. Mead Seminare in Philosophie und Psychologie
besuchte. Mrs. Aber, oder wie sie mit vollständigem Namen hieß, Mary Rose
Alling Aber, war unzweifelhaft eine bemerkenswerte Frau. Geboren 1851 in einem
Dorf im Nordwesten Pennsylvanias, hatte sie an der berühmten, vom
Pestalozzi-Anhänger Edward A. Sheldon gegründeten Oswego Normal School in
Upstate New York studiert und dann an verschiedenen Elementarschulen, High
Schools und Lehrerbildungsanstalten unterrichtet, ehe sie – nach
Veröffentlichung eines aufschlussreichen Aufsatzes über die „New Movement in
Education“
– in Boston Prinzipalin der jüngst von der Philanthropin Pauline Agassiz Shaw
gegründeten Primarschule wurde.
Boston war zu dieser Zeit ein Brennpunkt der pädagogischen Reform, nicht
zuletzt, weil dort John D. Runkle als Präsident des Massachusetts Institute of
Technology den allgemeinbildenden Wert des technischen Werkens demonstriert,
Gustaf Larsson als Gründer der Sloyd Training School das „schwedische System“
des Handfertigkeitsunterrichts popularisiert und Francis W. Parker als
damaliger Superintendent der Boston Public Schools das kind- und
handlungsorientrierte Lernen im öffentlichen Schulwesen etabliert hatte. In
dieser Atmosphäre des pädagogischen Aufbruchs initiierte Aber ein Schulprojekt,
das an das „Leben“ der Kinder anknüpfte und ihren Interessen und Neigungen am
besten entsprach.
Dewey las umgehend die insgesamt fünf Aufsätze und Bücher, in denen Mary
Aber über ihre Erziehungsvorstellungen und Unterrichtsversuche berichtet hatte:
The Children’s Own Work (1883, 1884),
„Mothers and Natural Science“ (1890) und „An Experiment in Education“ (1892a,
1892b). Dewey war überwältigt. Mrs. Aber, schrieb er seiner Frau, argumentiere
so „schlicht und gradlinig“, dass ihr Konzept „unendlich erweitert werden“
könne. Überhaupt sei sie wohl „die erste, die Naturkunde als Grundlage des
Lesens, Schreibens, Zeichnens etc. herausgearbeitet“ und damit den Erwerb der
Kulturtechniken nicht als Hauptaufgabe verstanden habe. Bei ihr seien die drei
R’s „reading, writing, ‘rithmetic“ vielmehr das Nebenprodukt eines Unterrichts,
der von den Bedürfnissen des Kindes, nicht von den Ansprüchen der Gesellschaft
ausgehe. Abers Texte, fügte er hinzu, zeichneten sich durch ihre „Eleganz und
Logik des Stils“ aus und seien – trotz des seinerzeit vorherrschenden und
allgemein als fortschrittlich empfundenen Herbartianismus, den er selbst
allerdings „grausam“ fand – „das einzige im Bereich der Pädagogik, das ich
jemals sah oder hörte, das pädagogisch war.“[ix]
Tatsächlich „träumte“ Dewey davon, Mary Aber „dazu zu bringen, wieder eine
Schule zu beginnen. Ich denke, dass das Problem für Fred–Evelyn–Morris damit
gelöst sein könnte.“
Dewey blieb auch mit Parker in Kontakt, doch seine Bewunderung für den
„Vater“ der progressiven Erziehungsbewegung hatte sich seit der Begegnung mit
Mary Aber erheblich abgeschwächt. Dewey war zwar immer noch der Ansicht, dass
man an der Cook County Normal School „das Problem des Lesens & Schreibens
& Buchstabierens formal vollkommen gelöst“ habe, aber er störte sich jetzt daran,
dass man dort die Kulturtechniken eben nur „formal“ vermitteln und die
Naturkunde, im Gegensatz zu Aber, abstrakt, kontextlos und lebensfern
unterrichten würde. In Englewood, konstatierte er, sei man „an den Punkt
gelangt, die ‚Natur‘ als ein Objekt, nicht als unser Leben zu betrachten.“
Zurückhaltend reagierte Dewey daher auch auf die Überlegung von Parker, eine
Kooperation zwischen ihren beiden Institutionen herbeizuführen. Nach Parker
sollten die Studenten der University of Chicago an der „Übungsschule“ der Normal
School hospitieren, um Einblick in die moderne Unterrichtspraxis zu bekommen,
und umgekehrt sollten die Studenten der Normal School an der Universität
Vorlesungen und Seminare besuchen, um mit den neuesten Ergebnissen der
Psychologie vertraut zu werden. „Was mich angeht“, kommentierte Dewey Parkers
Plan, „warte ich lieber noch eine Weile.“
Wahrscheinlich zögerte Dewey auch deswegen, weil die Sitzung mit
Universitätspräsident William R. Harper noch ausstand, in der sich entscheiden
würde, wie sein Tätigkeitsbereich endgültig aussehen sollte. Die Zusammenkunft
fand am 20. November statt und verlief ganz nach Deweys Wunsch. Das heißt,
Präsident Harper – immer schon an Bildungspolitik, Schulreform und
aufsehenerregenden Vorhaben interessiert – stimmte ohne weiteres den
Forderungen zu, die Dewey in einem eilends für das Treffen vorbereitete „Memorandum“
(1894) formuliert und mit verführerischen Argumenten gespickt hatte: (1.) Die
Pädagogik wird dem Department of Philosophy and Psychology zugeschlagen, und
er, und nicht die ursprünglich vorgesehene Herbartianerin Julia E. Bulkley,[xii]
steht dieser Abteilung vor. Begründung: „Ethik und Psychologie sind, richtig
gemacht, für die Pädagogik das, was das theoretische Studium der
wissenschaftliche Grundsätze für die Arbeit in einem Laboratorium ist.“ (2.) Dewey kann, nach
seiner Rückkehr aus Europa, eine dem pädagogischen Seminar angeschlossene und
„durch und durch experimentelle Schule“ errichten, um seine eigenen, über
Parker und Aber, aber auch über die Übungsschule in Jena und die Horace Mann
School in New York hinausführenden Vorstellungen von Schule, Unterricht und
Lehrerbildung verwirklichen zu können. Begründung: „die amerikanische
Universität, die als erste die bestehende Situation in der Pädagogik richtig
einschätzt und die darin eingeschlossenen Möglichkeiten erkennt, wird damit
auch den gesamten Universitätsbereich kontrollieren.“ (3.) Die Schule würde „klein anfangen“ und Deweys
Department unterstehen. Begründung: der Universität würden zunächst keine
Kosten entstehen, erst später würde die Schule „offizieller“ Teil der
Universität werden und sich „vom Kindergarten an aufwärts“ ausweiten. Mit dieser Vereinbarung war
Parkers Kooperationsplan gestorben, Harpers Sehnsucht nach innovativen Projekten
befriedigt, Deweys Karriere als Erziehungsphilosoph und Schulreformer auf den
Weg und das Wort von der neuen University Primary School als einem
pädagogischen „Labor“
erstmals ins Spiel gebracht.
Da der Universitätspräsident ein Mann der Tat war, wurde gleich noch die
Frage des Standorts geklärt. Ursprünglich wollte Dewey, die Schule, wie seine
Wohnung, in der Nähe des im westlichen Teil Chicagos gelegenen Hull House
unterbringen. Das Hull House war 1889 von Jane Addams als Sozial- und
Bildungszentrum für Einwanderer aus Süd- und Osteuropa in einem Slumviertel der
Stadt gegründet und seither von Dewey in seiner Funktion als Kurator und
Referent mitgeleitet und unterstützt worden. Als sozial engagierter Bürger fühlte
sich Dewey dem „gemeinen Volk“ zugehörig und hatte an sich geplant, den Kindern
der dort in desolaten Verhältnissen lebenden Arbeiter und Immigranten eine
bessere Bildung zu verschaffen. Doch von diesem Vorhaben nahm er schnell wieder
Abstand, aus zwei Gründen. Zum einen hatte er eingesehen, dass die Weststadt und
das Hull House kein „guter Ort“ für seine eigenen Kinder sei, schließlich seien
sie zu jung, um dauernd „schlimmen Wörtern“ und „schrecklichen Dingen“
ausgesetzt zu sein. Zum anderen leuchtete ihm der Hinweis von Harper ein, dass
eine Schule, die mehr als fünf Meilen von der Universität entfernt lag,
„unerfreulich“ sei und die Verbindung zwischen beiden Institutionen unnötig
erschwere. Politisch gesehen fand Dewey Harpers Einwand zwar „lächerlich“,
bezwang aber nicht zuletzt aus Eigennutz und Bequemlichkeit seine Aversion
gegen eine Schule, die im vornehmen Hyde Park Bezirk der Universität liegen
sollte und vorwiegend der dort lebenden „Aristokratie“, d.h. dem privilegierten
Bildungs- und Besitzbürgertum, zugutekommen würde. Seinen Gesinnungswandel
rechtfertigte Dewey gegenüber seiner Frau mit dem für einen Sozialliberalen und
Kapitalismuskritiker etwas befremdlichen Argument: „Wenn die Universität als
ein Mittel für Freds & Evelyns Erziehung genutzt werden kann, dann hat
Rockefellers Standard Oil Company schließlich doch noch eine gewisse
Berechtigung.“ Unausgesprochen klingt hier noch
ein drittes Motiv für die universitätsnahe Ortswahl an, nämlich das der Finanzierung.
Der Versuch, in einem Viertel ohne zahlungskräftige Eltern und Sponsoren eine mustergültige
Privatschule einrichten und über viele Jahre unterhalten zu können, hätte offenkundig
wenig Aussicht auf Erfolg gehabt.
Blieb die Frage, wer die neue Schule leiten sollte. Auch dieses Problem
wurde angesprochen, allerdings nur vorläufig und unter Vorbehalt gelöst. An
sich war Mary Aber Deweys Wunschkandidatin. Er bewunderte sie als eine Frau,
die einen „gesunden Menschenverstand“ besaß und in der Pädagogik „das einzig
Logische“ vertrat. Von ihr hatte er auch schon eine detaillierte Liste erhalten
zur Frage, welche Räume und Materialien für einen handlungszentrierten
Unterricht notwendig bzw. wünschenswert wären und wie viel die Ausstattung am
Ende kosten würde. Andererseits war Dewey vor ihr gewarnt worden. Von seiner
Kollegin Marion Talbot hatte er erfahren, dass Mary Aber mit Souls (1893) jüngst ein Werk
veröffentlicht hatte, das dem Okkultismus huldigte und eine phantastische
Reinkarnationslehre verfocht. Nach eigener Lektüre erschien auch ihm Aber als
„eigenartig“, „unberechenbar“, ja vielleicht „verrückt“. Vor einer endgültigen
Entscheidung wollte Dewey deshalb mit Aber noch ein klärendes Gespräch führen
und seine Frau um Rat fragen, ob er einer zu Theosophie und Spiritismus
neigenden Persönlichkeit die Leitung der Schule wirklich anvertrauen konnte.
Es war also der 20. November
1894, an dem Dewey und Harper die Laborschule gründeten. Und wie es sich
gehört, wenn die Universität ein neues Programm oder Institut beschlossen hatte,
war es Präsident Harper, der die Gründung der Schule der Öffentlichkeit bekannt
gab. „Im Zusammenhang mit dem Department [der Pädagogik],“ verkündete er auf
einer Universitätsfeier im März 1895, „werden so bald wie möglich Praxisschulen
unterschiedlichen Niveaus errichtet. Diese Versuchsschulen werden das Laboratorium des
Departments bilden. Die Universität“, fügte er stolz hinzu, „ist in gewisser
Weise selbst ein pädagogisches Laboratorium und wird als solches Lehrern aller Stände zu
Diensten sein“.
Auffällig ist indes, dass Harper
heutzutage kaum mehr mit der Entstehung der Schule in Zusammenhang gebracht
wird. Stattdessen hat sich eingebürgert, seinen Part Alice Dewey zu übertragen
und sie als Mitbegründerin zu betrachten.
Diese populäre Uminterpretation – allerdings von Deweys wichtigsten Biographen Dykhuizen
(1973), Westbrook (1991), Ryan (1995) und Martin (2002) nicht nachvollzogen – wurde
durch Max Eastmans Bemerkung von 1941, dass Dewey nie eine Schule begonnen
hätte, wäre nicht seine Frau gewesen, in die Welt gesetzt und anschließend durch
A. Gordon Melvins in dieser Hinsicht einflussreichem Werk Education: A History (1946) beglaubigt, durch Lawrence A. Cremins Standardwerk
zur amerikanischen Reformpädagogik The
Transformation of the School (1964) verbreitet und durch Judy Suratts
Eintrag im grundlegenden, feministisch orientierten Lexikon Notable American Women (1971) als politisch
korrekte Meinung endgültig durchgesetzt.
Die inzwischen gängige Auffassung, Alice Dewey
habe zusammen mit ihrem Mann die Laborschule gegründet, lässt sich jedoch nicht
belegen.